Von Kaninchen, Angst und dem Wunsch nach Freiheit

 

 

Grundgedanken & Prota

Auf den ersten Blick erscheint die Geschichte in wenigen Worten zusammengefasst: Eine jüdische Familie erlebt den Aufstieg Hitlers und verlässt kurz darauf das Land, während die NSDAP ihren Wahlsieg feiert. Ein Bauchgefühl ist es, das die Familie letztendlich dazu antreibt, das bisherige Leben zu verlassen und Bekanntes für die Freiheit und das Überleben zu opfern. Ein Aufbruch ins Ungewisse, sozusagen, aber vor allem eine Entscheidung aus (berechtigter) Sorge. 

Judith Kerr erzählt in diesem ersten von insgesamt drei Romanen der “Out of Hitler Time”-Reihe eine teilweise autobiografische Geschichte einer Flucht, die ihre Protagonistin Anna mit ihrer Familie über Prag, Zürich und Paris schlussendlich nach England bringen wird.  

Bei Anna handelt es sich um ein 9-jähriges Mädchen, das kaum sympathischer präsentiert sein könnte: es ist klug, herzensgut, unschuldig, hinterfragt alles um sich herum und möchte, ebenso wie Leser, verstehen, was die Welt bewegt und was die Grundlagen für Ereignisse sind, die das Leben so vieler unschuldiger Menschen derart beeinflussen. Sie beobachtet die Geschehen um sie herum und versucht sie in ihrer kindlichen Sicht einzuordnen, dem Unsinnigen einen Sinn zu geben und dient dem Leser als Ankerpunkt in dieser, besonders zu Beginn, rasanten und stationenreichen Reise durch Europa. Es ist, als würde das kleine Mädchen uns Lesern ständig an der Hand durch ihre eigene Geschichte führen, als seien wir der unsichtbare, imaginäre Freund, zu dem sich junge Geister in noch jüngeren Jahren gerne zuwenden. 

Struktur & Fokus 

Aufgrund der Wahl, ein junges Mädchen die Protagonistin dieses Romans sein zu lassen, entdeckt man die Gesellschaft und ihre Veränderungen durch Annas Neugierde und Willen, das zu verstehen, was nicht verstanden werden kann: wie Menschen einander derart begegnen können und sich ihrer Moral entledigen. Dadurch wächst sie dem Leser schnell ans Herz und man möchte zu keinem Zeitpunkt, dass ihr etwas Negatives widerfährt. Ein Gefühl, das sogar soweit getragen wird, dass der vermeintliche Diebstahl des rosa Kaninchens Mitleid mit Anna erregt. 

Die Autorin selbst geht in ihrer Inszenierung und Leserbindung an die Figur sehr geschickt vor: Sie entlässt Anna als unschuldiges, manchmal etwas naives Kind in eine Situation, die ungewohnt für sie ist und zwingt sie dazu, sich Orientierung zu verschaffen. Hierbei wird intelligent damit gearbeitet, dass wir Leser mehr über die Zeit der Nazis wissen als Anna und dieser Wissensvorsprung wird immer wieder durch kleine Nadelstiche inszeniert: wenn Anna sich zum Beispiel fragt, warum andere Kinder nicht mehr mit ihr spielen dürfen, wieso es von Bedeutung ist, dass sich manche ihrer Familienmitglieder den Aufstieg Hitlers als wenig bedrohlich einreden oder warum die Bücher ihres Vaters — ein berühmter Schriftsteller — verbrannt werden. 

Insgesamt liegt der Fokus dieses Romans aber nicht auf einer Wiedergabe der einzelnen Ereignisse, die zum zweiten Weltkrieg führen, sondern auf der berührenden Flüchtlingsgeschichte und dem Kontakt mit dem Fremden. Letztendlich ist es also eine Geschichte über Flucht und Integration, die gerade heutzutage Parallelen zur Realität bietet. Anna und ihr Bruder Max müssen so beispielsweise in Zürich zuerst damit zurecht kommen, dass sie das Schweizer-Deutsch nicht immer richtig verstehen, nur um sich danach, in Frankreich, noch mehr als Außenseiter zu fühlen, die sich in die französische Sprache und Kultur einfinden müssen. 

In diesen Szenen erinnert “When Hitler Stole Pink Rabbit” erstaunlich an frühere Geschichten des “Travel Writing”-Genres, in denen es gang und gäbe war, in großer Detailfreude die Unterschiede zwischen dem eigenen Herkunftsland und den neuen Eindrücken zu schildern, sowie darüber zu reflektieren, woher möglicher Unterschiede kommen und welche Gefühle man in dieser neuen Welt besitzt. Oftmals liegt die Handlung beispielsweise gar nicht auf dem Konflikt von Juden und dem furchtbaren Rassismus der 1930er Jahre, sondern auf Anna und ihre (temporären) Integrationsversuche in den Alltag eines fremden Landes. So entstehen hervorragende Augenblicke, die den eigentlichen Schrecken, der ihnen im Nacken sitzt, manches mal in den Hintergrund rückt, nur damit er wenig später mit voller Schlagkraft ins Bewusstsein gedrängt wird. 

Sprache

Die Sprache des Romans ist angemessen für die angezielte Altersgruppe, die nicht weit von Annas Alter entfernt liegen dürfte. Die Sätze haben eine angenehme Länge, der Sprachstil ist als durchgängig einfach zu beschreiben und es wurde wenig Wert auf eine außergewöhnliche sprachliche Gestaltung gelegt. 

Das ist aber bei einer so jungen Protagonistin auch nicht anders erwartbar, da eine zu reflektierte und gesellschaftskritische Sicht die Glaubwürdigkeit der kindlichen Heldin  untergraben hätte. Als Kompromiss, um auch Ältere noch einen Zugang zu bieten, fungieren die vielen Andeutungen über das Nazi-Regime, die manchmal einen Teil des Schweinwerferlichtes abbekommen, oftmals aber eher im schattigen Hintergrund stattfinden. 

Die einfache Beschaffenheit der Sprache ermöglicht es, dass man als erwachsener Leser nahezu durch das Buch fliegt und es mit Sicherheit schafft, innerhalb weniger Stunden das Ende des ersten Bandes zu erreichen. Es sei an dieser Stelle dringend erneut darauf hingewiesen, dass es sich um den ersten Teil einer Trilogie handelt und der erste Roman an einer Stelle offen endet, die für Frustration sorgen kann, aber in jedem Fall zum Kauf des nächsten Buches anregt.

Lesegefühl

Dieser Roman stellt die Flucht einer Familie aus der Sicht eines kleinen Mädchens dar, die weder richtig greifen noch begreifen kann, warum man hinter ihnen her ist und in welche Zukunft sie treiben. Das ist berührend und insbesondere in der ersten Hälfte des Romans fühlt man als Leser eine Beklemmung und Anspannung, wie die Flucht gelingen wird und wie die Familie zurechtkommen wird. Hierbei ist speziell die junge Protagonistin einer der Hauptgründe, das Buch immer weiter lesen zu wollen: Man fühlt und bangt mit ihr, schaut manches Mal belächelnd auf sie herab, andere Male überrascht sie durch clevere Beobachtungen und Kommentare. 

Während Anna als Heldin hervorragend gelungen ist und lebensecht wirkt, sind die anderen Figuren etwas blasser gestaltet. Ein Umstand der vermutlich darin begründet ist, dass die Autorin in diesem Roman eigene Erlebnisse aufarbeitet und sich dadurch selbst in die Figur der kleinen Anna transferiert hat.  

Nichtsdestotrotz entwickelt sich gerade diese autobiografische Note an manchen Stellen des Romans zu einem Stolperstein, der die Lesefreude zwar nicht maßgeblich beeinträchtigt, aber zumindest ausbremst: während die Handlung zu Beginn schnell voranschreitet und in den ersten fünfzig-sechzig Seiten viele einzelne Vorfälle das Leben der Familie beeinflussen, wird das Erzähltempo in der Frankreich-Episode deutlich ruhiger. 

Während vor allem die Auseinandersetzungen mit den Fluchtgründen und den Problemen mit der jeweiligen neuen Heimat für Spannung und Interesse sorgen, wirkt der Verlauf in Frankreich etwas zu lang gezogen und verliert sich ab und zu in einem alltäglichen Dahinplätschern, dem man entgegenrufen möchte, dass mal wieder etwas passieren dürfe. 

Dieses verlangsamte Erzähltempo mag zwar mit der Realität zu begründen sein, dass die Autorin Judith Kerr ebenfalls eine lange Zeit in Frankreich verbrachte, und die Zeit dementsprechend prägend empfand, aber da stellt sich die Frage, ob die Realität die Fiktion derart beeinflussen sollte oder ob nicht eine Straffung der Episode sinniger gewesen wäre.

Bewertung: 4/5 Lese-Eulen

Buchdetails

Taschenbuch: 272 Seiten

Verlag: HarperCollins; New Edition (1993)

Sprache: Englisch

Größe und/oder Gewicht: 13 x 1,4 x 19,6 cm 

Link zur aktuellen Version des Buches: When Hitler Stole Pink Rabbit 

 

Klappentext der aktuellen Version von Amazon:

„Based on the gripping real-life story of the author, this poignant, suspenseful middle-grade novel has been a favorite for over forty years. Perfect for Holocaust Remembrance Month.Anna is not sure who Hitler is, but she sees his face on posters all over Berlin. Then one morning, Anna and her brother awake to find her father gone! Her mother explains that their father has had to leave and soon they will secretly join him. Anna just doesn’t understand. Why do their parents keep insisting that Germany is no longer safe for Jews like them? Because of Hitler, Anna must leave everything behind.”

Vergleichbare Bücher & Links:

 The Boy in the Stripped Pyjama Der Junge mit dem gestreiften Pyjama

 Anne Frank – Tagebuch

 The Book Thief / Die Bücherdiebin

 Reise im August

Damals war es Friedrich

 

 

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One thought on “Rezension: When Hitler Stole Pink Rabbit von Judith Kerr (Harper Collins)”

  1. Damit sie wegen des Umzugs der Domain nicht verloren gehen, hier die früheren Kommentare zu diesem Blogbeitrag:

    Klara Westhoff
    “Als Hitler das rosa Kaninchen stahl” – wow, das hätte ich bei #Autorinnenzeit auch mal erwähnen sollen. War eines meiner Lieblingsbuchreihe während meiner Jugend. Und wartet sehnsüchtig auf ein neues Lesen und Durchblättern in der heutigen Zeit. Danke für die Erinnerung.
    10 days ago

    Sven Hensel
    Sehr gerne 🙂 Ich habe es durch die #Autorinnenzeit für mich entdeckt und war sofort begeistert:) Durch das Buch kam ich erst auf die Idee, mit den Rezensionen anzufangen:)
    3 days ago

    Klara Westhoff
    Warum haben Sie es auf Englisch gelesen und nicht die deutsche Fassung? Das war doch die Originale, oder? Das Buch liegt 100 km weit weg, da kann ich gerade nicht nachschauen. 😉 Oder war der Tipp auf Autorinnenzeit auf die englische Fassung bezogen?

    3 days ago

    Sven Hensel
    Ich habe es auf Englisch gelesen, ja 🙂 Der Tipp galt aber für die Handlung und die Geschichte generell:) Ich lese Bücher auf Deutsch und auf Englisch, je nachdem welche Version ich schon daheim habe 🙂 Oftmals greife ich auch bewusst zur Originalsprache eines Buches (bei Englisch), um nicht von der Übersetzung beeinflusst zu werden:)

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