Zerreißende Schwere in begrenzten Worten

 

Grundgedanken & Prota

Öffnet man diese als Roman verschriene Zeitreise, werden zuerst die außergewöhnliche Anordnung der Zeilen und die vielen nur zur Hälfte gefüllten Seiten ins Auge fallen. Man ist versucht, das Buch noch einmal zu schließen und nachzusehen, ob man es wirklich mit einer Prosa und nicht etwa einem Gedichtband zu tun hat, da auch viele der Seiten mit Zeilenlücken gefüllt sind, die diesen ersten Eindruck unterstreichen. 

Doch es lässt sich an dieser Stelle beruhigen: es handelt sich um kein Werk der Lyrik und gleichzeitig besitzt es doch so viele Anlagen, wenn man einmal von fehlenden Reimen absieht. Es ist beispielsweise in einzelnen Sätzen geschrieben — also Vers-ähnlichen Charakter haben —, die sich in einigen Momenten aufeinander beziehen, ansonsten aber mit einer Freiheit ausgestattet sind, wie sie sich von den Figuren dieses Romans oftmals nur erwünscht oder mit Gewalt beschaffen wird. 

Die Geschichte, die in diesem Roman erzählt wird, ist die einer vielversprechenden jungen Malerin, deren Leben durch ein Asteroidenhagel an Schicksalsschlägen ihrer Unschuld beraubt wird. Es ist ein Leben in Zeiten des Aufstiegs und der Ausbreitung der Nationalsozialisten, es ist ein Leiden in unmenschlicher Höhe und ein Kampf um die Möglichkeit des Überlebens.

Dies alles erlebte Charlotte Salomon, um die es in diesem Roman geht, und die trotzdem nur indirekt eine Stimme erhält. Der eigentliche Protagonist ist der Autor des Romans selbst, der sich immer wieder sogar in die Geschichte einschaltet, sie unterbricht und davon erzählt, wie er Elemente der Handlung zusammensucht und auf den Spuren der längst verstorbenen, hochbegabten Künstlerin ist. Charlotte und ihre Familie lässt er in Situationen aufleben, in denen er agiert, als sei er in Form eines auktorialen Erzählers selbst dabei gewesen. 

Charlotte und ihre Familie kommen daher nur durch die teil-fiktiven Gedankenkonstrukte des Autors Foenkinos zur Geltung, dessen Faszination von dieser Geschichte deutlich spürbar ist. Im Grunde ist dies also ein Roman eines Bewunderers einer Künstlerin, dessen Detailgrad an Einfallsreichtum beinahe eine Obsession vermuten lässt, und Leser bekommen durch seine Vision den Eindruck eines menschlichen Lebens, das sich in einer sich verdüsternden Welt nach etwas Licht sehnte.

Struktur & Fokus

Dieses Werk ist in drei Ebenen strukturiert: zum einen werden die Hintergrundgeschichten einzelner Figuren präsentiert, die für den Roman und Charlottes Leben eine Rolle spielen, während, zum anderen, die Geschehnisse innerhalb der Familie im Präsens gehalten werden. Es soll wirken, als würden diese Dinge gerade in diesem Augenblick geschehen und man sei als Leser ebenso dabei, wie es der Autor als auktorialer Erzähler zu sein vorgibt. Die dritte Ebene ist ebenfalls im Präsens gehalten und stellt sich als Unterbrechungen der Handlung der 1920er bis 1940er dar, um die Gegenwart des Autors in den 2000er Jahren zu zeigen, in denen er schildert, wie er die Stationen von Charlottes Leben besucht. Man wird bei dieser Zeitreise daher nicht nur auf den Weg in die NS-Zeit, sondern auch der Zeit der Entstehung des Romans mitgenommen.

Den Fokus des Romans festzulegen ist nur schwer möglich, da natürlich die Abhandlungen von Charlottes Leben den Mittelpunkt der Geschichte darstellen, gleichzeitig sind die Einschübe der Gegenwart des Autors ebenso stark präsent wie die Hintergründe der Figuren. Es ist ein Dreigestirn, das sich von Kapitel zu Kapitel um ein synergetisches Verschmelzen bemüht, jedoch dennoch stets wie drei voneinander getrennte Teile wirken. Oftmals kommt es vor, dass nur der Wechsel vom auktorialen zum Ich-Erzähler den Wechsel der Zeitebene markiert und erst nach einigen gelesen Zeilen ins Bewusstsein rückt. 

Die Übergänge sind zwar durch Absätze getrennt, jedoch werden die auch innerhalb eines Handlungsstranges benutzt, um beispielsweise von einem zum nächsten Tag zu wechseln, sodass die Grenzen zwischen dieser Handlungshydra mehr schwammig als verschmelzend sind. Hier wären deutlichere Abgrenzungen hilfreicher gewesen, um Lesern eine Orientierung zu bieten. Man verläuft sich gerne einmal, da die visuelle Ausstattung des Romans eben jenes zulässt. Eine Erleichterung durch kursive Schrift, Trennlinien, größere Abstände oder andere Schriftarten  zwischen einzelnen erzählerischen Ebenenhätten gut getan.

Sprache

Die Sprache dieses Romans muss in mehreren Etappen erschlossen werden: so ist es beispielsweise richtig, dass nur wenige der Sätze die Hälfte einer Zeile erreichen und jede Zeile mit einem Punkt endet. In noch weniger Fällen entsteht eine Verbindung zwischen dem vorherigen und dem folgenden Satz; meistens endet ein Satz ebenso wie der Gedanke auf inhaltlicher Ebene. 

Man könnte dies als Telegrammstil bezeichnen, passend zur dargestellten Zeitebene, und als Versuch des Autors, einen möglichst authentischen Spracheindruck zu servieren. Dieser Gedanke hält sich solange aufrecht, bis der Autor selbst innerhalb des Romans diese außergewöhnliche Wahl der syntaktischen Ausarbeitung seiner Ergüsse erklärt und einen Grund vorgibt, den man als Leser Glauben schenken mag oder es für eine fadenscheinige Ausrede hält.

Diese Erklärung ändert jedoch nichts daran, dass es der Text, durch dieses abgehakten Sprachstils, versäumt, für einen standardmäßigen Lesefluss zu sorgen, da viele der Zeilenwechseln mit veränderten Thesen und Aussagen zur Geschichte oder den Gedanken der Protagonisten einhergehen. So kann sich innerhalb von drei oder vier Halbzeilen ein Unglück ereignen, nur damit in der Folgezeile ein völlig anderer Gedanke geäußert wird. 

Durch diese Art der sprachlichen Gestaltung fordert der Roman seine Leser heraus, besonders aufmerksam zu lesen und sich immer wieder neu auf die dargestellten Situationen einzustellen. Hierdurch liest man bewusster, sodass die vielen Sätze, die teilweise lyrischen Charakter und damit eine Schwere besitzen, anstatt wie Nadelstiche eher wie Lanzentreffer wirken. Oftmals wird man versucht sein, das Lesen für einen Augenblick zu unterbrechen, da die Vielzahl der negativen Ereignisse und die Form der kraftvollen, scharfkantigen und klaren Formulierungen dafür sorgen werden, dass man sich nach Erholung sehnt.

Lesegefühl

Zu Beginn herrscht ein Gefühl der Unklarheit, da der Klappentext des Romans eine dreigliedrige Erzählstruktur nicht vermuten lässt. Daher dauert es einige Seiten, bis man sich wirklich in diesen Roman eingelebt hat und insbesondere die erste Erwähnung des Autors und seiner Suche sorgt für Verwirrung. Gleichermaßen befindet man sich auf einem süchtig-machenden Leidensweg, die messerscharfen Sätze zu lesen, die an einigen Stellen nahezu wie so konstruiert wirken, um möglichst viel Schaden im Leserherz anzurichten. Zu häufig stockt man mit dem Atem, erhält das Gefühl, man würde mit jeder Silbe einen Anker an die Hüfte gebunden bekommen und in ein allzu dunkles Loch hinabsinken.

Dieser Roman beschert kein Glück während des Lesens. Er lässt an der Menschlichkeit jener zweifeln, die sich für das Grauen verantwortlich zeichneten. Er löst Mitleid für die Figuren aus, die einerseits zwar wirklich existierten und andererseits nur Symbole für alle Schicksale sind, die vom Hass gefressen wurden. 

Foenkinos gelingt es, eine Sympathie zur Familie Salomon zu vermitteln, die eine Auseinandersetzung mit ihren persönlichen Dramen nur schwerer und schmerzhafter macht. Man begleitet die Familie, insbesondere Charlotte, auf einer Reise, deren gewisses Ende vom Leser vermutet, aber mit einem stetigen Hoffen aufgefüllt wird. Letztendlich tobt so in Lesern ein Kampf zwischen der Angst vor dem schlimmstmöglichen Ende, dem Mitgefühls mit einer Familie, die kaum mehr Leid hätten erfahren können, und den inneren Verwundungen, die man durch die Sprache erhält. 

Seite um Seite baut sich das Drama eines Menschenlebens vor den Augen des Lesers auf, während ein Gefühl der Hilflosigkeit sich die Hand mit dem bitteren Wunsch gibt, Charlotte und ihrer Familie Stabilität und Schutz geben zu wollen. Der Abgrund, der durch die vielen Arten des Chaos und der inneren wie familiären Zerstörung aufgerissen wird, besitzt eine verführerische Tiefe und nur zu gerne ertappt man sich emotional dabei, sich völlig in diesen Roman fallen zu lassen, die Geschehnisse aufzusaugen und mit Herzklopfen einer Geschichte zu folgen, die von Traurigkeit durchzogen ist. Lediglich die unnötigen Ausflüge in die Gegenwart des Autors reißen den Leser aus dem Strudel des Fallens und stören den ansonsten außerordentlichen Gesamteindruck. 

Bewertung: 4/5 Lese-Eulen

Buchdetails

Taschenbuch: 240 Seiten

Verlag: Penguin Verlag (14. November 2016)

Sprache: Deutsch

Größe und/oder Gewicht: 11,8 x 2 x 18,6 cm

Link zur aktuellen Version des Buches: Charlotte

 

Klappentext:

„»Das ist mein ganzes Leben« – mit diesen Worten übergibt Charlotte einem Vertrauten 1942 einen Koffer voller Bilder. Sie erzählen ihre viel zu kurze Geschichte: von der Kindheit im Berlin der 20 Jahre, dem frühen Tod der Mutter, dem Zugang zu Berlins Künstlerkreisen durch die neue Frau des Vaters, dem Studium an der Kunstakademie, dem Leben als Malerin. Und dann: Flucht vor den Nationalsozialisten nach Südfrankreich, Leben im Exil, aber auch Liebe und Hochzeit. Nur ihre Bilder überleben – und damit ihre Geschichte, die David Foenkinos anrührend erzählt. Charlotte ist das Porträt eines verheißungsvollen Lebens, das viel zu früh beendet wurde.“

 

 

Vergleichbare Titel:

Charlotte Salomon: “Es ist mein ganzes Leben”

Das Vermächtnis der Seidenraupen: Geschichte einer Familie 

Sie kam aus Mariupol

 

 

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